Eine Welt ohne Gefühle

Veröffentlicht am 16. November 2025 um 16:49

Manchmal tragen wir so viel, über so lange Zeit, dass sich in uns der Wunsch regt, einfach einmal nichts mehr fühlen zu müssen. Keine Achterbahn, kein Auf und Ab, keine Erschöpfung, kein Druck. Nur Stille. Nur Ruhe. Ein kurzer Moment ohne all das Innere, das uns bewegt und manchmal überfordert.

Und genau dort beginnt die Geschichte von Anna – einer Frau, die so vieles gleichzeitig schulterte, dass sie sich irgendwann heimlich wünschte, eine Pause von ihren Gefühlen zu bekommen. Eine einzige, kleine Pause.

Eines Abends – in dieser kleinen, stillen, fast märchenhaften Fantasie – erschien ihr eine Fee. Nicht glitzernd oder aufdringlich, sondern weich, freundlich und voller Ruhe. Sie berührte Anna mit einem Hauch aus Licht und sagte nur wenige Worte, die für einen Moment alles veränderten:

„Für einen Tag schenke ich dir eine Pause von all deinen Gefühlen.“

Anna war überrascht, erleichtert – und gleichzeitig ahnte sie nicht, was dieses Geschenk in ihr auslösen würde.


Wenn Farben plötzlich grau werden

Als Anna später mit ihrer Tochter zum Laternenfest ging, merkte sie es zum ersten Mal:
Die warmen Lichter, die sie sonst so liebte, wirkten plötzlich stumpf.

Die Laternen leuchteten, aber in ihr blieb alles grau.
Es gab kein leises Aufglühen von Freude, wenn die Kinder losgingen.
Kein stolzes Wärmegefühl, als ihre Tochter ihr selbstgebasteltes Licht hochhielt.
Nicht einmal der Gesang der Kinder, der sie jedes Jahr tief berührt hatte, fand seinen Weg zu ihr.

Alles war glatt.
Kein Hoch, kein Tief, kein Dazwischen.
Nur dieses flache Grau – wie Nebel, der sich nicht hebt.

Ihre Tochter zog leise an ihrem Ärmel.
„Mama… bist du heute okay? Du bist irgendwie anders.“

Anna lächelte, doch selbst ihr eigenes Gesicht fühlte sich fremd an.
Sie nahm die Worte der Tochter wahr, aber sie konnte nicht spüren, was diese Worte in ihr auslösten.
Da war nur eine stille Abwesenheit.


Wenn Wut fehlt

Am nächsten Morgen war Anna zurück in der Arbeit.
Dort gab es eine Kollegin, die ihr gern ungefragt zusätzliche Aufgaben auf den Tisch legte – eine Situation, die Anna sonst sofort spüren ließ, dass eine Grenze überschritten wurde.

Normalerweise kam ein klarer Impuls:
ein Aufbäumen, ein inneres „Nein“, ein Druck in der Brust oder ein heißer Stich im Bauch.
Wut, die nicht schön war, aber wahr.
Eine Wut, die sie immer wieder daran erinnerte, wo sie begann und wo andere aufhören sollten.

Doch an diesem Tag… nichts.

Die Kollegin legte kommentarlos einen Stapel Unterlagen ab.
Anna sah auf das Papier, wartete auf ein inneres Signal – aber es blieb still.
Keine Reaktion.
Keine Grenze.
Keine Orientierung.

Fast mechanisch begann sie, die Aufgaben zu bearbeiten, und während sie schrieb, tauchte ein leiser Gedanke auf:

„Warum mache ich das eigentlich?“

Doch ihr Körper gab keine Antwort.
Keine Anspannung.
Keine Hitze.
Kein Widerstand.
Nichts, was ihr half zu spüren: Das ist zu viel.

Sie fühlte sich schutzlos – als hätte sie ihren inneren Kompass verloren.


Wenn Entscheidungen ohne Körpergefühl schwer werden

Am Nachmittag bat ihr Teamleiter sie in sein Büro.
Er fragte, ob sie zusätzlich ein kleines Projekt übernehmen könne.

Normalerweise konnte Anna sofort fühlen, ob etwas stimmte oder nicht:
Ein Ziehen im Bauch, wenn es zu viel wurde.
Eine Weite im Brustraum, wenn etwas gut passte.
Eine Spannung im Nacken, wenn Vorsicht geboten war.

Doch auch hier blieb es leer.

„Ja… ich denke schon“, hörte sie sich sagen, ohne dass ihr Körper ihr signalisiert hätte, ob diese Entscheidung richtig war.

Auf dem Rückweg spürte sie nichts außer einem einzigen, stillen Gedanken:
„Wie soll ich gute Entscheidungen treffen, wenn mein Körper nicht mehr mit mir spricht?“

Sie erkannte:
Ohne die Sprache ihres Körpers war sie orientierungslos – wie ein Kompass ohne Nadel.


Wenn ein alter Glaubenssatz schleicht sich ein

Später am Tag gab es einen weiteren Moment, der Anna unerwartet tief traf.
Sie geriet in eine Situation, die früher sofort einen ihrer hartnäckigsten alten Glaubenssätze berührt hätte – jeden zufriedenstellen zu müssen, damit niemand enttäuscht oder verärgert ist.

Dieser Satz war einmal wie ein ständiges Echo in ihrem Leben gewesen.
Anna hatte Jahre damit verbracht, ihn zu hinterfragen, zu verstehen, zu lösen.
Sie war so stolz gewesen auf die Schritte, die sie gegangen war:
auf die kleinen Mutmomente,
auf die Grenzen, die sie sich neu erarbeitet hatte,
auf das leise, aber beständige Gefühl, innerlich freier zu werden.

Doch als sie nun in eine Situation kam, die früher sofort diesen alten Reflex ausgelöst hätte,
passierte… nichts.

Keine vertraute Enge im Brustkorb, die ihr früher gezeigt hatte,
dass sie wieder versuchte, es allen recht zu machen.
Keine Müdigkeit, kein innerer Konflikt, kein Widerstand.
Und auch kein Selbstvertrauen es wieder zu schaffen
– nur Leere.

Anna stand mitten in einem Moment, der einmal so wichtig für ihre Entwicklung gewesen war,
und sie spürte nicht, ob dieser Glaubenssatz wirklich seinen Platz verloren hatte
oder ob sie ihn einfach nicht mehr wahrnehmen konnte.

Es verwirrte sie.
Gerade dieser Satz war ein Stück Lebensarbeit gewesen,
ein Thema, das sie immer wieder mutig angeschaut hatte.
Und jetzt, wo sie eigentlich hätte spüren wollen,
wie weit sie schon gekommen war…
stand da nur dieses flache Grau.

Wie ein Kompass, dessen Nadel stillsteht.
Ein Instrument, das einst so zuverlässig war –
und nun jede Richtung verloren hat.


Annas Erkenntnis – warum Gefühle essenziell sind

Am Abend, als sie die Haustür hinter sich schloss, wurde Anna klar:
Die Gefühle, die sie manchmal als störend empfand,
die Wut, die sie so oft unterdrückte,
die Freude, die sie manchmal kaum zulassen konnte,
das Bauchgefühl, das sie leitete –

all das war nicht ihr Problem.
Es war ihre Orientierung.
Ihr Schutz.
Ihre Verbindung zu sich selbst.

Gefühle sind nicht der Sturm – sie sind der Kompass darin.
Und ohne diesen Kompass verliert man den Weg zu sich selbst.

Dieser Text erzählt eine symbolische Geschichte und ersetzt keine Beratung. Gefühle sind ein wichtiger Orientierungspunkt – und es kann hilfreich sein, sie gemeinsam zu betrachten.


💬 Reflexionsfrage für dich

Von welchem Gefühl würdest du manchmal am liebsten Abstand nehmen?

Und – was würde dir fehlen, wenn es wirklich verschwunden wäre